Wachstumsschmerz, die Angst und ich

Von Panikattacken, Angstzuständen und dem Verlorengehen.

Es fühlt sich wie ein großer, schwerer imaginärer Katalog an, der das Erwachsenwerden für mich bebildert hat. Als Kind verschrammte Knie gehabt vom vielen Draußenspielen und Fahrradfahren. Check. Als Teenager bauchfrei getragen und abstruse Piercings gehabt und mit Alkopops und Schweißbändern am Arm im Club zu 50 Cent gefeiert. Ebenfalls Check. Studentenleben, noch mehr Freunde finden, WG-Leben, romantische Flausen, innige Liebesbeziehungen, One-Night-Stands, Festivals und Städtewechsel, Rucksackreisen und Liebeskummer in Rotweingelagen ertränkt, Freundschaften auseinander gehen sehen, Feiern bis vormittags, Jobeinstieg, eigenes Online-Magazin und Selbstständigkeit. Und noch so vieles mehr. Dreifachcheck. Gleiche ich das mit dem von mir gern betitelten Jugendkatalog ab, hab ich fast alles auf der Agenda gehabt, was man da so erlebt haben sollte in der Zeitspanne. Blättere ich weiter, kommt da im Anschluss Partner, Ehe, Kinder und Haus. Moment mal. Ich blättere wieder zurück zu den Feiermädchen-Seiten und dann wieder nach vorne zum Familienmodell. Aber dazwischen ist nichts. Keine Seiten zeigen Frauen in ihren 30ern im Übergang dazu. Kindheit, Jugend, Twentysomething-Gedöns, Familiengründung und Hochzeiten – alles Schlagworte, zu denen man sofort Bilder im Kopf hat … Hübsche Bilder, die Ideale zeigen. Aber weiblicher Single und Anfang/Mitte 30 – da gibts irgendwie keine Bilder. Da gibts eher Fragezeichen. Das ist im genormten Werdegang nicht mit drin, das ist auch 2019 in unserer Gesellschaft noch nicht in den Köpfen verankert. Das war sogar bei mir selbst noch nicht mit Assoziationen belegt. 

Erstmals im Leben hat mir das Gefühl für einen Lebensabschnitt gefehlt. Mehr noch. Plötzlich hat mir ein Gefühl für mich selbst gefehlt. Ein Gefühl für einen Lebensentwurf, der vor mir liegt. Darum bin ich auch etwas verloren gegangen. Zeitgleich begannen übersteigerte Ängste, sich zu verselbstständigen und alte Narben aufzureißen. Es war plötzlich so viel Ich da und so wenig Ablenkung im Außen. 

 

In meinem Leben hat sich plötzlich ein Gefühl von einem Zu-Ende-Gehen eingeschlichen. Aber im Austausch gab's keine Vision, wie es für mich weitergehen sollte. Keine Idee, wie ich leben möchte.

Im letzten Jahr ist viel passiert, ich habe meinen Job gekündigt, wir haben Jubel Trubel Zweisamkeit gelauncht, ich habe mich als Freelancer selbstständig gemacht, um mich herum haben sich viele meiner Freunde verändert, sind erwachsener geworden, haben eine Familie gegründet. Mein so so sehr geliebter Hund ist gestorben, der in meiner Familie eine klaffende Lücke hinterlassen hat. Schmerz und Traurigkeit wegen allem, was nicht mehr ist, haben begonnen, immer schwerer zu wiegen. In meinem Leben hat sich plötzlich ein Gefühl von einem Zu-Ende-Gehen eingeschlichen. Aber im Austausch gab’s keine Vision, wie es für mich weitergehen sollte. Keine Idee, wie ich leben möchte. Ich bin aus meinem alten Alltag etwas herausgewachsen, aber dazu hatte ich auch keinen Joballtag mit Strukturen und Kollegen mehr und habe mit den Anfängen meiner Selbstständigkeit gekämpft. Diesen Punkt hatte ich mir selbst ausgesucht, das Ausmaß der Anstrengung und Veränderung aber auch etwas unterschätzt. Als dann klar war, dass es auch an der Zeit ist, die WG mit Kerstin langsam aufzulösen, da ist plötzlich alles in mir dunkel geworden. Und so sehr ich mich auch anstrengte, ich habe kein Licht gesehen. Ich habe gemerkt, dass in mir etwas unfassbar verrutscht ist. Ich hatte die Verbindung zu mir verloren.

Und dabei wurde plötzlich der Druck immer größer.


Der Druck von außen, was ich mit 34 zu tun habe, obwohl ich selbst mich noch gar nicht bereit dazu fühle. Übergriffige Fragen und Kommentare, dass es jetzt ja wohl mal Zeit für ein Kind wäre. Plötzlich wird dein Wert als Frau daran gemessen, ob du auch deiner Aufgabe des Kindergebärens nachkommst. Hätte ich 2019 gar nicht mal so gedacht, ist aber noch so. Ein Unding, was mich unfassbar wütend macht. Denn ich bin doch noch  mehr. Und ja, ich möchte auch eine Familie gründen, aber kann ich das bitte in meinem Tempo machen? Das wäre ein Knaller, vielen Dank!
Zeitgleich kam auch der Druck, dass ich jetzt funktionieren musste, weil ich mich gerade erst selbstständig gemacht hatte. Und dabei waren meine Kraftreserven mehr als aufgebraucht, weil ich mich nicht gut um mich gekümmert hatte. Aber so ist es nun mal, unser Körper zeigt uns, wann Stop gedrückt werden muss und unsere Psyche findet Wege, uns spüren zu lassen, dass etwas nicht stimmt. Ich merkte plötzlich, wie Erlebnisse aus der Vergangenheit an die Oberfläche wollte. Schmerz und Verlust, den ich scheinbar noch nicht verarbeitet hatte. Ängste und Horrorgedanken, die übermächtig wurden und mich sehr veränderten, weil ich überall nur noch Gefahren gesehen habe. Was folgten waren Panikattacken, Morgende, an denen ich nicht aufstehen konnte, Gedankenstrudel zur Vergänglichkeit und zum Tod. Zukunftsangst. Verlustangst. Generell Angst. Und Traurigkeit. Entweder war ich panisch und rastlos, wie ein gehetztes Tier oder antriebslos traurig.

Über psychische Probleme zu sprechen ist so so wichtig! Und Scham absoluter Bullshit!

Es ist hart, sich selbst einzugestehen, dass man ein Problem hat

Alles zusammen wurde zu einer riesigen Lawine, die mich überrollt hat. Wollte ich anfangs vertuschen, wie schlecht es mir eigentlich ging, kam der Punkt, an dem ich festgestellt habe, dass ich da alleine nicht rauskomme. Also habe ich mir Hilfe geholt. Bei Freunden und Familie, aber eben auch bei Profis. Ich habe eine Therapie begonnen und arbeite viel an mir und mit mir. Habe mir Pausen gegönnt und verstanden, dass Vieles nur in meinem Kopf passiert. Dass Gedanken zu einem Gefängnis werden können. Mir wurde klar, ich muss im Oberstübchen aufräumen und alte Denkmuster über Bord schmeißen. Ich habe tief gekramt, welche Wünsche denn so da sind – fernab von klassischen gesellschaftlichen Normen. Ich lerne gerade, mich mit mir selbst zu beschäftigen, ohne mich hinter Freunden, Familie oder Beziehungen zu verstecken. Den Panikattacken und den Ängsten die Stirn zu bieten und einfach in Bewegung zu kommen. Aber auch zu akzeptieren, dass man Ängste nicht einfach verdrängen kann – sie wollen nämlich angeschaut werden. Das tue ich seitdem. Ich versuche Schritt für Schritt im Moment zu bleiben und dem Leben die Chance zu lassen, dass Wundervolles passieren kann. Ganz ohne Plan. Atmen und gehen. Dankbar sein. Und vertrauen, dass es auch einfach richtig geil werden kann, wenn du etwas mehr loslässt und deine Komfortzone verlässt. Trust the timing of your life und so.

Für mich hieß das jetzt erstmal: Wohnung komplett auflösen, Sachen unterstellen, mich einer neuen Freiheit hingeben, die meine Freiberuflichkeit mit sich bringt. Und einfach mal gespannt sein, welche neuen Türen dadurch aufgehen und wie ich dadurch wachsen kann. Gestartet bin ich jetzt gerade mit fünf Wochen Portugal. Natürlich nehme ich Jubel Trubel und euch mit und erzähle euch, wie sich das alles so anfühlt. Während ich das hier schreibe, sitze ich übrigens alleine in Portugal mit Blick aufs Meer und es fühlt sich großartig an.

Kleine Schritte im großen Veränderungsprozess

Man sagt ja, manchmal müssen sich Strukturen auflösen und in Einzelteile zerfallen, damit man an den Kern kommt, den es zu heilen gilt. Nur so kann Neues, Wunderbares entstehen. Ziemlich genau so habe ich mich im letzten halben Jahr gefühlt, denn ich habe meinen ganzen gewohnten Alltag mit Job und Freunden in Köln aufgegeben und breche so viele Selbstschutzschichten von mir gerade auf. Der Weg ist steinig und es geht mal auf und ab, weil es ein Prozess ist, weil es all meinen Mut kostet und mir manchmal die Puste ausgeht. Aber ich merke auch schon, wie sehr sich die Anstrengung lohnt. Wie sehr ich viel viel mehr bei mir bleibe. Wie Momente der Panik, in denen ich kaum atmen kann, weniger werden. Oder wie ich sie besser handeln kann, weil ich gelernt habe, sie wie eine Welle über mich ergehen zu lassen, anstatt sie mit aller Gewalt runterzudrücken. Tut weh und ist richtig scheiße, aber die Message ist so wichtig: Es geht auch wieder vorbei. Ich merke, wie ich richtig Bock bekomme, auf alles, was da an tollen Überraschungen vor mir liegt. Und das treibt mich jeden Tag an, genau da weiterzumachen, immer wieder ehrlich mit mir zu sein, mich gut um mich zu kümmern und meinen inneren Dämonen den Mittelfinger zu zeigen. Ich habe dennoch verstanden, dass meine Panikattacken mir zeigen wollten, dass ich auf dem falschen Weg war und dass ich mich einem Schmerz aus der Vergangenheit nochmals stellen musste. Dass ich zu viel Autopilot hatte, zu viel Druck alles schaffen zu wollen und zu viel Angst aus Gewohntem rauszugehen, obwohl ich unterbewusst das Gefühl hatte, ich muss was ändern. Deshalb mache ich gerade einen Deal mit der Angst, ich will sie nicht mehr gewaltsam verscheuchen – dann wird sie eh nicht gehen – ausgefuchstes Ding, diese Angst. Ich versuche jeden Tag aufs Neue zu akzeptieren, dass sie in Teilen auch irgendwie zu mir gehört. Daher sage ich, sie darf mitkommen auf meine Reise und wir schauen gemeinsam, wie wir die leeren Seiten im Lebenskatalog fabelhaft buntmalen können. Aber sie darf nur mitfahren, um mich vor wirklich monströsen Dummheiten zu beschützen, sie darf ansonsten nicht ins Steuer greifen. Sie darf noch nicht mal die Klimaanlage bedienen. Jeder Teamtrip hat seine Regeln. 

Headerfoto: Photo by Paola Chaaya on Unsplash 

Text: Jenny

Jubel Trubel Zweisamkeit-Gründerin, Fan von Wortneuschöpfungen und Songs, die sich dramatisch steigern. Die hört sie am liebsten laut beim Auto fahren oder während sie klitzekleine Sachen in Schachteln ordnet. Nebenbei arbeitet die Detailverknallte als Freelancerin – ihr Ding: alles, was mit Copywriting, Social Media und Texten zu tun hat. Ach ja, und Kirmes. Übrigens würde sie ganz gerne auf der nächsten Hochzeit den New Girl-Ententanz nachstellen. Wer Bock hat mitzumachen, gerne mal melden!

Foto by Betty

Veröffentlicht am 26. Mai 2019
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