Wenn Eltern
sich trennen ...

Anfang 2008. Als ich gerade zu Besuch in der Heimat bin, packt mein Vater seine Sachen und zieht endgültig aus. Dieser Tag Anfang 2008 ist auch der Tag, an dem ich mich von dem letzten Stück Kindheit verabschiede. Es ist der Tag, an dem sich meine ganze Welt einmal umdreht. Und das unwiderruflich. Denn all die festen Gefüge, die mir trotz ihrer Risse immer Halt gegeben hatten, lösen sich mit einem Mal in Luft auf.

Ich weiß nicht, wie es ist als Kind eine Trennung der Eltern zu erleben, aber ich weiß wie es ist, wenn die Familie mit Anfang 20 zerbricht. Als meine Eltern sich trennten, war ich 22. „Du bist ja schon erwachsen, dann ist das ja nicht so schlimm“, wie oft habe ich diesen Satz gehört und wie sehr habe ich ihn gehasst. Natürlich ist es schlimm. Sehr sogar. Denn auch wenn ich nicht mehr bei meiner Familie wohnte und angefangen hatte, mein eigenes Leben zu führen, hatte ich deshalb doch nicht aufgehört, mir ein Zuhause zu wünschen, in das ich jederzeit zurückkommen konnte. Als meine Eltern sich trennten, war das wie ein großes Krachen. Äußerlich wie innerlich. Mit der Unbeschwertheit des Lebens in seinen Grundzügen war ab diesem Zeitpunkt mit einem Knall Schluss für mich. Ab jetzt kam ich nicht mehr für ein Stück heile Welt nach Hause, sondern um Scherben aufzusammeln. In dem Haus, das bald nicht mehr mein Elternhaus sein würde, gab es kein Kinderzimmer mehr, dafür Stapel von Umzugskartons. Neben meiner Rolle als Tochter, fand ich mich plötzlich als Beziehungsberaterin und Seelentrösterin wieder. Den Schmerz meiner Mutter hatte ich direkt vor Augen und auch den meines kleinen Bruders, der damals 14 war. Schnell habe ich also Leichtigkeit gegen Verantwortungsgefühl und in den Arm genommen werden gegen den anderen festhalten getauscht.

„Ich war in meinen Grundfesten erschüttert worden. Ein großes Stück Geborgenheit war für immer verloren gegangen."

Ich kann mich nicht mehr an den genauen Augenblick der Trennung erinnern oder wie meine Eltern uns gesagt haben, dass sie nicht mehr zusammen sind. Aber die Gewissheit über das Ende meines Zuhauses, die sich in mir breit machte, spüre ich noch als sei es gestern gewesen. Ich wollte ganz weit weg sein. An einem Ort, der mir eine andere, bessere Realität geben konnte. Wo dieses Drama, das sich hier gerade abspielte, überhaupt nicht existierte. Gleichzeitig wollte ich die Zeit zurückdrehen und wieder als kleines Mädchen unter dem Weihnachtsbaum sitzen. So mit fünf, als ich die Beziehungsprobleme meiner Eltern entweder noch nicht verstand oder noch besser, in der es diese Probleme überhaupt nicht gegeben hatte.

In der Wirklichkeit, die ich mir nicht aussuchen konnte, war ich zu dieser Zeit so sehr verloren. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich nicht mehr weinen. Meistens versuchte ich, nicht daran zu denken. Nur dass ich noch nie eine Verdrängerin war. Es gab Tage, da fühlte ich mich so dumpf. Wie unter einer riesigen Glocke. Alles prallte an mir ab. Abgesehen von dieser tiefen Traurigkeit. Oft war ich kopflos. Lief herum wie eine Irre auf der Suche nach Anerkennung und wusste gar nicht, wieso. Alles, was ich dann fühlte, war, dass mir etwas fehlte. Ich war in meinen Grundfesten erschüttert worden. Ein großes Stück Geborgenheit war für immer verloren gegangen. Das mag nach Luxusproblem klingen, aber egal ob mit zehn oder zwanzig oder dreißig – nach diesem warmen Gefühl, dass dich von Zeit zu Zeit in einen weichen Kokon packt, sehnt sich jeder, glaube ich.

Ende 2008, kurz vor Weihnachten. Ich sitze mit meinen drei Brüdern in der neuen Wohnung meines Vaters. Er kocht für uns einen Truthahn, Knödel und Rotkohl. Das Essen, was es bei uns Zuhause immer am ersten Weihnachtsfeiertag gab. Wir schauen irgendeinen Film, spielen irgendein Spiel. Alles fühlt sich fremd an. Mein Vater bittet uns, seine Freundin bald kennenzulernen und zu akzeptieren. Er findet, es sei jetzt viel Zeit ins Land gegangen. Ich habe das Gefühl, ich stecke noch mittendrin in dieser Trennung. Verabschiedet habe ich mich noch so gar nicht. Jedenfalls nicht genug.

„Sind wir dazu in der Lage Liebe, Hass, Wut oder Trauer voll und ganz zu verbergen? Meine Eltern waren es nicht und heute weiß ich, dass ich es auch nicht könnte."

Ich habe mich oft gefragt, ob du als Scheidungskind noch einfach nur Kind sein darfst. Jetzt weiß ich, das ist ziemlich schwierig. Denn trennen sich deine Eltern, wenn du schon im Erwachsenen-Alter bist, gibt es da viele Erwartungen, die an dich gestellt werden. Auf der einen Seite sollte ich erwachsen sein. Ich sollte alles rational sehen. Ich sollte auf keinen Fall kindisch sein. Denn schließlich war ich in den Augen meiner Eltern ja auch kein Kind mehr. Auf der anderen Seite sollte ich die Verbündete, die Wütende sein, diejenige die mithasst, mittrauert, die tröstet. Von mir wurde erwartet, das Richtige zu fühlen. In jeder Situation. Nur wer außer mir selbst hatte das Recht zu bestimmen, was für mich das Richtige ist? Die wenigsten Eltern erkennen, dass du in ihrem Schmerz-Ping-Pong nicht der Punching-Ball sein darfst. Und auch nicht Paartherapeut. Und schon gar nicht Trennungsberater.

Sommer 2015. Ich betrete zum ersten Mal die Wohnung, in der mein Vater mit seiner neuen Frau wohnt. An den Wänden hängen Bilder aus dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Das Haus, das vor fünf Jahren verkauft wurde. Flashback. Ich sehe uns immer noch dort als Familie und könnte weinen. Ich reiße mich zusammen. Aber freuen kann ich mich nicht. Weder über meine neue Stiefschwester noch über meine Stiefmutter. Mag sein, dass ich zu emotional bin, zu nostalgisch, zu loyal meiner Mutter gegenüber. Aber steuern kann ich das nicht. Das Treffen endet im Streit. Mein Vater und ich haben danach kaum noch Kontakt. Und wieder frage ich mich: Wer bestimmt, was ich zu fühlen habe? Ich weiß weder vor noch zurück. Ich denke immer in Lösungen. Aber für diese Situation gibt es das erste Mal in meinem Leben keine. Weil ich noch so wütend bin. Weil ich immer noch traurig bin. Auch nach sieben Jahren. Weil mir die Nähe zu meinem Vater fehlt, der jetzt in einer ganz anderen Welt lebt. Ich bin nur noch Gast. Und das ist unfassbar schmerzhaft.

Trennungskinder. Zu diesem Club gehöre ich jetzt widerwillig seit 10 Jahren. Und genauso lange hat es gedauert, bis ich mit der Scheidung meiner Eltern Frieden gemacht habe. Genauso lange hat es gedauert, bis meine Wut auf das „Wie“ dieser Trennung verpufft ist. Denn auch wenn ich immer wusste, dass dieser Schritt für beide der beste war, tat es trotzdem unglaublich weh. Ich habe lange gebraucht, um einzusehen, dass es nicht meine Aufgabe ist über die Art eines Beziehungsendes zu richten. Ich musste einsehen, dass ich um „Aufeinander zugehen“ gebeten hatte, mein eigener Blickwinkel aber zu sehr eingefroren war. Irgendwann hatte ich verstanden: Wenn Gefühle ins Spiel kommen, sind wir alle wie Kinder. Sind wir dazu in der Lage Liebe, Hass, Wut oder Trauer voll und ganz zu verbergen? Meine Eltern waren es nicht und heute weiß ich, dass ich es auch nicht könnte. Trotzdem brauchte ich diese Zeit, um zu verzeihen. Und um all meinen Gefühlen Raum zu geben. Egal ob richtig oder falsch, erwachsen oder kindisch. Heute glaube ich, dass Zeit am Ende das Einzige war, was mir und uns allen geholfen hat. Erst jetzt kann ich es akzeptieren: Meine Eltern sind glücklicher mit ihren eigenen, neuen Leben. Und sie sind für mich da. Beide auf ihre ganz eigene Weise. Wenn auch nicht zusammen unterm Tannenbaum sitzend.

 

Foto: Kristopher Roller via Unsplash

Kerstin Buddendiek, Co-Founder Jubel Trubel Zweisamkeit

Text: Kerstin

Jubel Trubel Zweisamkeit-Gründerin und Verkupplungskünstlerin. Dazu Komplimente-Tourette und ein Lidstrich, der ewig hält – wenn das keine geile Mischung ist?! Neben ihrem Ruhepol-Dasein hat sie ‘nen ziemlichen Plan von Influencern und Social Media Shizzle. War früher ganz klares Unternehmensseite-Kind, hat dann aber doch das Freelancen für sich entdeckt. Größtes Anliegen: Bitte mal „Ich hab noch nie …” spielen. Wer macht mit?

Veröffentlicht am 13. April 2018
Artikel teilen facebook pinterest

Das könntest
du auch
gut finden.

arrow arrow arrow

Mit Michelle im Stadtwald

zum Artikel

Diese Wand, du und ich

zum Artikel

A Stranger A Day

zum Artikel